Keine Zeit... wie oft sagen, denken oder fühlen wir das. Aber haben wir wirklich keine Zeit oder entscheiden wir uns, unsere Zeit anders zu verbringen? Können wir Zeit eigentlich haben=besitzen? Und warum fühlen wir uns permanent unter Zeit-Druck, warum rennt uns die Zeit davon, wieso rinnt uns die Zeit durch die Finger?
Das seit Langem erhellenste und inspirierenste Buch, das mir letzte Woche durch ein Bücher-Tausch-Board (zufällig oder vielleicht ja auch bewusst) in die Finger gefallen ist, beschäftigt sich mit genau diesen Fragen:
Zeit als Lebenskunst von Olaf Georg Klein
«Wie kommt es, dass wir ständig von uns behaupten, wir hätten keine Zeit? Wie ist es um eine Gesellschaft bestellt, die sich aus freien Stücken unter das Diktat der Uhr begeben hat und sich dennoch immer zu beklagt über Zeitnot, Zeitdruck und Zeitmangel? Wieso erliegen wir so oft dem Irrtum, Zeit sparen zu können, indem wir möglichst viele Dinge schneller – und am Besten auch noch gleichzeitig – erledigen?»
Von Zeit, Takt und Rhythmus ... prägend für alle
Mich beschäftigt die Frage nach dem Umgang mit Zeit schon länger ... immer wieder nähere ich mich diesem Thema an, versuche den Zusammenhang zwischen Zeit, Takt und Rhythmus für unser Leben zu ergründen und einen Lebensrhythmus für mich zu finden, der meinem Wesen entspricht und sich natürlicher, stimmiger, passender anfühlt als den Takt, den ich mir oft selbst in meinem Alltag vorgebe.
Was mich beim Lesen des Buchs besonders bewegt hat, war das Bewusstsein, dass ich mit meinem Zeitrhythmus nicht nur mich selbst beeinflusse, sondern auch all die Menschen um mich herum – insbesondere meine Kinder, denen ich einen oftmals total hektischen Umgang mit Zeit vorlebe, sie in Zeitmuster und -raster presse und sie antreibe, statt ihnen die Zeit zu lassen, die sie für etwas brauchen. Ich lebe also selbst einen Zeittakt, den ich ihnen tunlichst eigentlich nicht vermitteln möchte. Was lebt ihr anderen diesbezüglich vor? Was meint ihr: Schaffen wir es gemeinsam, den getakteten Zeitrhythmus unserer Gesellschaft zu «knacken» und zu zeigen, dass es auch anders geht, wieder mehr natürlichen Flow in unser aller Leben zu integrieren und Zeit-Druck in Zeit-Entspannung zu transformieren?
Schön wär’s, aber wie?
Durch die Zeiten, die ich im Ausland gelebt habe – insbesondere die drei Jahre, die ich in Honduras verbracht habe, weiss ich an sich, dass der Umgang mit Zeit sehr unterschiedlich gelebt wird. Ich habe diesen in anderen Kontexten oft als sehr viel entspannter erlebt. Und doch fällt es mir so schwer, den meines Erachtens nach sinnvolleren Umgang mit Zeit aus den südlichen Breitengraden dieser Welt in unsere von Uhr-Zeittakt und -logik geprägte Gesellschaft zu integrieren. Insofern liegt die Kunst wohl genau darin, an dem Ort, an dem wir gerade stehen, leben und uns bewegen, eine Zeitkultur für uns zu finden, die uns entspricht ... und mit der wir gleichzeitig in unserem Umfeld zurechtkommen. Olaf Georg Klein spricht in dem Zusammenhang von Zeitsouveränität:
«Mit den unterschiedlichsten zeitlichen Herausforderungen im Leben gelassen umzugehen, klare Vorstellungen über unsere kulturellen Zeitmodelle zu haben – und diese bei Bedarf (für sich) wandeln zu können, uns der eigenen individuellen Besonderheiten im Umgang mit der Zeit bewusst zu sein, uns Wissen über die Zeit als existentielle Dimension des Lebens anzueignen, die eigene Selbstzentriertheit zu stärken und, nicht zuletzt, uns Verbündete zu suchen, die die herrschende Zeitkultur ebenfalls (aus ihrer jeweiligen Perspektive) kritisieren und verändern möchten.»
Was unsere Zeitkultur mit systemischen Herausforderungen zu tun hat Für mich erhellend war ausserdem, in welchem Masse unser aktueller Umgang mit Zeit mit anderen gesellschaftlichen Herausforderungen und Themen zusammenhängt ... und welch tiefgreifenden Einflüsse das (Zeit-)Paradigma von «schneller, effizienter und Multi-Tasking-orientiert» auf unseren Umgang hat in der Arbeitswelt, mit unseren natürlichen Ressourcen, in der Bildung, im Carebereich, bei Ernährung/Landwirtschaft... und in vielen Bereichen mehr.
Wir haben den natürlichen Rhythmus von Entstehen ->
Werden & Wachsen ->
Reifen & Ernten ->
Ruhen, Regenerieren & Vergehen durchbrochen.
Unsere Gesellschaft fokussiert stark auf
Neues hervorbringen = Innovation,
Machen = am Gras ziehen, damit es schneller wächst sowie
Ernten = möglichst viel Abschöpfen.
Doch wo bleibt Raum für Regeneration, Muse, Nichtstun, Müßiggang und Ruhen (lassen) als Leerlauf, als Phase der Transformation, die Nährboden und Energie für Neues, für Inspiration, Kraft fürs Machen und Tun und Humus für reiche Ernte hervorbringt?
Im Fluss der Zeit Olaf Georg Klein stellt dazu das Konzept von «Ereigniszeit» in den Raum ... während wir in unserer Zeitkultur den Dingen oftmals ein konkretes Zeitfenster zuschreiben, kehrt eine Orientierung an Ereigniszeit diese Korrelation um: Dann findet der Workshop nicht von 09:00-11:00 Uhr statt, sondern dauert so lang, wie es braucht, zu einem stimmigen Ergebnis zu finden (entsprechende Ruhe- und Regenerationsphasen selbstverständlich eingeschlossen). Dass solch ein Zeitverständnis so viel mehr unserem natürlichen Rhythmus entspräche, kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen: Während meiner Weiterbildung zur Wildnispädagogik haben wir als Gruppe jeweils verlängerte Wochenenden draussen in der Natur verbracht. Wir haben uns zwar grob an Uhrzeiten orientiert – so haben wir beispielsweise pi mal Daumen gegen 9 Uhr mit dem Tagesprogramm gestartet. Der Tagesverlauf hingegen hat sich dann an der Gruppendynamik orientiert sowie der Zeit, die wir uns als Gruppe für die jeweiligen Übungen geben wollten und brauchten. So entstand ein natürlicher Tages-Flow, der sich nie gezwungen oder unter Zeitdruck angefühlt hätte. Rückblickend bin ich der Ansicht, dass genau dieses Zeit-Floating in Kombination mit dem «Being-Away» vom Alltag und dem Draussen-Sein in der Natur massgeblich dazu beigetragen hat, dass ich jeweils so entspannt und aufgetankt aus diesen Wochenenden wieder zurückgekehrt bin. Nicht umsonst, ist «Flow-Erleben», nach dem Flow-Konzept von Mihály Csíkszentmihályi, gekoppelt an das Empfinden von Zeitlosigkeit. Wir tauchen völlig in eine Tätigkeit ein, es geht uns alles leicht und scheinbar mühelos von der Hand und Zeit spielt in dem Moment keine Rolle für uns.
Vom Zeit-Raffer auf Zeit-Streching umschalten Oft sind wir im Zeitraffer-Modus unterwegs ... doch wie können wir Zeit bewusst dehnen oder strechen? Können wir das überhaupt ... wobei wir wieder zurück bei der Anfangsfrage wären: «Können wir Zeit überhaupt haben=besitzen» und damit bewusst etwas machen? Oder sind wir nicht vielmehr Teil davon?
Genau genommen ist Zeit das gerechteste Gut der Erde ... jede*r hat täglich genau dasselbe Zeitkontingent zur Verfügung wie die Mitmenschen um einen herum. 24 Stunden – nicht mehr und nicht weniger. Absolut Fair Trade. Und das noch dazu völlig bedingungslos.
Einziger Wehrmutstropfen: Ebenso wie bei manch regenerativen Energien ist das Speicherproblem nicht gelöst (und wird es wohl auch nie werden). Denn Sparen, Speichern und Aufheben für später lässt sich Zeit nicht. Wir können sie nur im Hier und Jetzt nutzen, nur in dem Moment, der gerade dran ist.
Die gute Nachricht: Objektiv ist Zeit für jede*n gleich. Das individuelle Zeitempfinden kann aber subjektiv von Mensch zu Mensch völlig unterschiedlich ausfallen – je nachdem, ob die Person im Moment lebt ... oder in Gedanken schon wieder beim nächsten ToDo ist oder gefühlt in der Zukunft lebt.
Carpe Diem Carpe Diem ist eine Weisheit, die uns der römische Dichter Horaz in seiner Ode «An Leukonoë» mit auf den Weg gibt. Fälschlicherweise wird dies aber oft mit «Nutze den Tag» übersetzt, was schon wieder ein Tun impliziert und damit dem Nichtstun implizit einen Riegel vorschiebt. Wortwörtlich übersetzt heisst Carpe Diem «Pflücke den Tag», was soviel bedeutet wie «Geniesse den Tag». Genuss schliesst Müßiggang, Entspannung und Nichtstun mit ein.
Auf den Weg ...
«Ist es wirklich selbstverständlich, morgen wieder einen Tag ‘geschenkt’ zu bekommen, den wir gestalten und geniessen können? Können wir ihn wirklich als ein Geschenk ansehen und entsprechend würdigen? Das würde bedeuten, dass wir jeden Tag darüber staunen können, dass Zeit immer wieder neu ‘entsteht’.»
Diese Anregung aus dem Buch möchte ich euch gern mit auf den Weg geben. Denn wenn wir täglich so leben würden, dass wir morgen mit uns und der Welt in Frieden Abschied aus dem Leben nehmen könnten, nicht grundlegend bedauern, etwas nicht getan zu haben, etwas nicht gelebt zu haben, dann...
(open end ... to be defined by you, wie dann dein Leben aussieht).
Comments